Willkommen im Heidiland

geo, «schauplatz schweiz», okt 2018

Rund ein Drittel der Älpler und Sennen in den Schweizer Alpen stammt aus dem Ausland. Was hoffen diese Menschen in den Bergen zu finden? Die GEO-Reporterin ist zu ihnen hochgestiegen.

Text & Fotos: Caroline Fink

Wie ein Fjord liegt der Klöntalersee zwischen den Flanken von Glärnisch und Wiggis. Wer hier, mitten in den Glarner Alpen, aus dem Postauto steigt, hat meist Badekleid und Grill dabei und denkt kaum an harte Arbeit, wie sie 750 Höhenmeter weiter oben seit dem Morgengrauen verrichtet wird. Dort, eingebettet im Schoss einer Hochebene, liegt die Alp Ober Ruoggis, umgeben von Geröll und Tannenwald und einer Stille, die nur vom Glockengebimmel der Ziegen und Rinder und dem Krähen eines Hahns unterbrochen wird.

Während vier Monaten lebt und arbeitet Älplerin Viera Hofmann, 48, im Sommer auf Ruoggis. Steht auf, wenn die Morgendämmerung silbern über dem Glärnisch hängt, treibt die Rinder auf die Weide, wenn die ersten Sonnenstrahlen durch das Klöntal fliessen. Fängt später ausgebüxte Ziegen ein, steckt Zäune neu, feuert den Herd ein. Und legt sich wieder schlafen, wenn die Welt hier oben so wird, wie es Johanna Spyri im Roman Heidi aus dem Jahr 1879 schrieb: Wenn «die Felshörner zum Himmel aufflammen, das weite Schneefeld glüht und rosenrote Wolken darüber hinziehen; das Gras rings auf der Alm golden ist, und unten weithin das ganze Tal in Gold schwimmt.»

Auf Ruoggis könnte man den nächsten Heidifilm drehen; deswegen bin ich bei Viera Hofmann genau richtig. Ich will das Klischee der «Alp» ergründen, mit dem Schweiz Tourismus Besucher aus der ganzen Welt anlockt.

Wie kam es zu diesem Idealbild?

Und vor allem: Wie sieht die Wahrheit hinter dem Schleier des Idylls aus?

Antworten erhoffe ich mir von Älplern, die aus dem Raster fallen. Die nicht Heidi und Peter heißen und aus Maienfeld stammen, sondern Friedger und Fridjof Freytag aus Rostock, Cheryl Ong aus Singapur oder eben: Viera Hofmann, die im deutschen Freiburg lebt und in der östlichen Slowakei zur Welt kam. In einer Gegend, so flach, dass die höchsten Erhebungen die Kirchtürme der umliegenden Dörfer waren. Älpler wie sie gibt es in der Schweiz erstaunlich viele.

«Genaue Zahlen fehlen zwar», sagt Publizist und Fotograf Giorgio Hösli, selbst seit Jahrzehnten Älpler und Gründer des Online-Portals zAlp. Doch seiner Schätzung nach dürfte rund ein Drittel der Älpler und Sennen in der Schweiz aus dem Ausland stammen. «Eine Zahl, die seit Jahren in etwa stabil bleibt.»

Als ich die Älplerin von Ruoggis nachmittags wenig unterhalb der Hütte auf dem Wanderweg treffe, schleppt sie einen Wasserkübel mit sich. Sie sei auf dem Weg zu einer Ziege, die ins Tobel gestürzt sei und nun reglos unten im Wald stehe, erzählt sie mir in gewähltem Hochdeutsch mit leichtem Akzent. Ob das Tier verletzt sei? «Schwer zu sagen.»

Viera Hoffmann wischt sich eine verschwitzte Haarsträne aus der Stirn und hebt den Eimer wieder hoch. «Ich bringe ihr Wasser für die Nacht», sagt sie und geht weiter talwärts.

Später wird Viera Hofmann die Ziege – sie überlebt den Vorfall – «Sila» taufen. Das slowakische Wort für Kraft.

 Gegen Abend kehrt Ruhe ein auf Ruoggis. Die Rinder sind auf der Nachtweide, die Ziegen frisch eingezäunt und ich sitze mit Viera Hofmann am Tisch in der Alphütte. Wir pellen gekochte Eier, die das Huhn mit dem Namen Andalusia tags zuvor gelegt hat. Als ich Viera Hofmann auf Alp-Klischees anspreche, überlegt sie eine Weile.

«Die Alp hat nichts mit Klischees zu tun, sondern mit Landwirtschaft.»

Sie zögert kurz.

«Ausser vielleicht... Heidi auf der Alp!»

Also doch! Heidi kreuzte auch Viera Hofmanns Weg. «Auf einem Flohmarkt in Deutschland, als ich Kinderbücher kaufte, um Deutsch zu lernen.» Zur Alp gefunden habe sie aber nicht wegen Heidi. Vielmehr habe sie sich nach dem Tod ihres Mannes, den sie mehrere Jahre gepflegt hatte, eine Auszeit von ihrem Beruf als Altenpflegerin gewünscht.

«Und hier im Glarnerland habe ich gute Leute und einen Alpchef gefunden, für den ich gern arbeite.»

Hat sie nie Schwierigkeiten erfahren als Ausländerin auf einer Schweizer Alp?

Viera Hofmann schüttelt den Kopf. «Nie – ausser, dass ich sie kaum verstehe!»

Warum aber hält sich das Bild der idyllischen Schweiz gerade bei dieser Form der Agrarwirtschaft so beharrlich? Ausgerechnet beim «Schlusslicht der Berglandwirtschaft», wie Giorgio Hösli das Alpnen nennt.

Als ich Hösli in seiner Alphütte im einsamen Urner Intschital treffe, um genau das herauszufinden, nimmt er erst einmal die verbeulte Pfanne vom Herd und giesst zwei Tassen aufgebrühten Kaffee ein, schiebt ein Holzscheit ins Feuer des Herds und sagt dann ganz einfach: «Warum sich das Klischee hält? Weil es hier oben ein gutes Leben ist.» Weil man hier einen Job habe, der Sinn mache. «In dieser Bergwelt mit den Viechern.»

Dasselbe in anderen Worten hatte mir auch der österreichische Philosoph Jens Badura gesagt, der sich als Gründer des Projekts «creativeAlps» mit Klischees im Alpenraum auseinandersetzt. Ich in Zürich, er in Ramsau bei Berchtesgaden, sassen wir uns einige Wochen zuvor am Skype-Bildschirm gegenüber und sprachen – Ironie des modernen Lebens – über das heutige Bedürfnis nach Authentizität. Nach einer Welt, in der wir vermeintlich nicht entfremdet und schon gar nicht digital entfremdet seien, sagt Jens Badura. In der wir den Zusammenhang von Handlung und Handlungsfolgen überblickten. Und auf der Alp hätten wir genau das: «den Eindruck, dass das, was die Alp ausmacht, glaubwürdig und nicht inszeniert ist.»

Stimmt das auch für Cheryl Ong aus Singapur? Aufgewachsen im Stadtstaat, wo 8000 Menschen pro Quadratkilometer leben, kannte sie die Schweiz bis vor kurzem kaum. «Einzig Toblerone war mir bekannt», sagt sie und lacht.

Doch als sie vor Giorgio Höslis Alphütte mit einem Schwingbesen Rahm steifschlägt, erinnert sie – weites Karohemd, Birkenstöcke, rotweisses Edelweisstüechli um den Hals – dennoch ein wenig an Heidi. Sie, die seit zwei Jahren modernen Tanz in Lausanne studiert und sich dort nie richtig wohl fühlte.

«Die Romands sind sehr emotional und drücken Gefühle direkt aus.» Was ihr fremd sei.

Als sie letztes Jahr aber im Rahmen ihrer Schule für zwei Wochen als Freiwillige im Bergwaldprojekt im schwyzerischen Wägital arbeitete, habe sie sich auf einmal zu Hause gefühlt.

 «Die Ruhe der Berge und die zurückhaltenden Deutschschweizer – das gefiel mir!»

So erhielt Giorgio Hösli über zAlp im Frühjahr eine Anfrage von Cheryl Ong mit der Bitte, auf seiner Alp mitarbeiten zu dürfen. «Bitte in Deutsch anstatt Englisch schreiben», antwortete er, skeptisch, ob sie ihm tatsächlich eine Hilfe wäre.

Ein Tag später kam dasselbe Mail in Deutsch, übersetzt von Google Translate. «Immerhin», habe er sich gedacht und so arbeitet Cheryl Ong für zwei Wochen auf der Intschialp. Rodet mit einer Machete den wuchernden Germer, streicht Zaunpfähle, sammelt wilden Thymian für Tee und Küche.

Ihre Freunde in Singapur würden sie auslachen, erzählt sie – «du Dorfmädchen!» – und die Eltern hätten einzig «viel Glück» gewünscht. Sie streichelt Hirtenhund Fiel, während er sich zu ihren Füssen unter den Holztisch legt.

Ihr Umfeld denke, sie mache auf der Alp lustige Ferien. «Doch ich finde hier meine Wurzeln.» Sie klingt wie jemand, der über das Gesagte lange nachgedacht hat. Oder in Jens Baduras Worten: Sie klingt glaubwürdig und nicht inszeniert. Selbst als sie sich beim Germer schneiden eine Alpenrose ins Haar steckt.

Als Giorgio Hösli gegen Abend Peperoni und Karotten rüstet und Cheryl Ong den Herd einfeuert, frage ich sie, was das Wichtigste sei, das sie von der Alp mitnehmen werde. Sie hält einen Moment inne, dann sagt sie:

«Dieses Gefühl, wenn ich sehe, wie Giorgio jetzt gerade kocht.»

Wie Giorgio kocht?

«Ja. Wie er Öl und Gemüse in die alte, schmutzige Pfanne schmeisst. Wie er die Pfanne vom Feuer hebt und schwingt.»

Sie überlegt noch einmal.

«Das ist für mich der Ausdruck wirklichen Lebens. Das ist Freiheit.»

Am Abend ziehe ich talwärts, dem Bach entlang und durch kniehohe Wiesen, während Cheryl Ongs Worte in meinem Geist widerhallen.

Wie interessant, dass es eine junge Frau aus Singapur just auf der Alp die Freiheit findet. Sie, in deren Heimat die staatliche Zensur Kritik an der Regierung verbietet, während in der Schweiz Alpwirtschaft und Alpen während Jahrzehnten zum Sinnbild der Freiheit stilisiert wurden. Insbesondere im Rahmen der «Geistigen Landesverteidigung», als eine politisch verordnete Identitätsstiftung zur Strategie gegen Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunisums und Bergler und Sennen zu Vertretern schweizerischer Werte wurden – freiheitsliebend, natürlich und ehrlich.

Je mehr ich mich bemühe, die ungeschönte Realität hinter den Klischees zu finden, desto eher treffe ich die klischierten Bilder in der Realität: Älpler, die in der Ruhe der Berge ihrem Tagwerk nachgehen – zufrieden, bescheiden, erfüllt von der Schönheit der sie umgebenden Natur.

Doch dann kommt Tschärmilonga.

Eine Alp hoch über Leuk, tagsüber freier Blick auf Walliser Viertausender, nachts auf das Lichtermeer des Rhonetals. Eine Alp mit 90 Milchkühen, auf der morgens um 3 Uhr die Wecker schellen und wenig später Lichtkegel von Stirnlampen durch die Dunkelheit huschen. Dann, wenn Friedger und Fridjof Freytag aus Rostock und Briga Pehlemann aus Braunschweig ihre Kühe von der Weide in den Stall treiben. Zwei Stunden lang rufen und laufen, bis jede an ihrem Platz ist, angebunden an einer Kette.

Zur Morgendämmerung schnalzen dann sechs Melkmaschinen, während die Älpler sich zwischen die warmen Leiber der Kühe zwängen, 90 Mal das Melkzeug an, 90 Mal ein Euter mit Jod desinfizieren. Rund 1000 Liter Milch schleust die Melkanlage täglich in die Sennerei nebenan, wo Benno Werner aus Mannheim sich um halb fünf Uhr eine weisse Plastikschürze umbindet, den Chromstahlofen einfeuert und jeden Vormittag mit Käsetuch und Lastkran 100 kg Käse aus dem kupfernen Käsekessel hievt.

Alpkäse, Raclette, Mutschli in Herzform – fünf Tonnen Käse hat er bis Anfang August produziert, bis Ende Sommer werden es neun Tonnen sein.

«Wir wussten, dass Alpwirtschaft eher hart als romantisch ist», sagt Friedger Freytag. Die Brüder sind auf einem Bauernhof aufgewachsen und haben in Deutschland ökologische Agrarwissenschaft studiert. Der erste Sommer auf Tschärmilonga habe sie dennoch überrumpelt: Sie kannten das Gebiet nicht, hatten zu wenig Strom und Wasser, Kühe büxten wegen schlechtem Zaunmaterial aus und die tausend Liter Milch schleppten die Älpler jeden Tag in Kannen vom Stall zur Sennereipumpe.

«Die Nerven lagen blank», sagt Friedger Freytag rückblickend. Und selbst wenn der junge Mann mit den blonden, kurz geschorenen Haaren wie ein ganzer Kerl wirkt, merkt man: Das war zu viel.

Nicht zuletzt, weil es – im Gegensatz zu Viera Hofmann und Cheryl Ong – mit den Einheimischen aus dem nahen Bergdorf schwierig war. Was sie machten? Die beiden Brüder aus Rostock zögern.

«Wir haben uns sagen lassen, dass die Walliser so sind.»

Wie?

«Dass man hinter dem Rücken übereinander tuschelt.»

Auch über Euch?

«Letztes Jahr die ganze Zeit. Was machen die dort oben? Die machen das falsch. Warum machen sie es so? Fast keiner hat mit unser direkt gesprochen.»

Doch jetzt, sagen die Freytags, sei vieles anders. Eine neue Melkanlage gebe es, Hirtenhund Gibs sei hier, dazu eine Person mehr für den Haushalt und ein zweites Motorrad. Und an die Walliser Eigenheiten hätten sie sich auch gewöhnt.

«Besuchen die Bauern uns, essen wir zusammen Raclette, kommen Besucher vorbei, halten wir einen Schwatz», sagt Briga Pehlemann.

Am Ende gibt es dann auch auf Tschärmilonga diese besonderen Momente: Wenn Briga Pehlemann sich während einer Pause auf das Fensterbrett im ersten Stock setzt und Gitarre spielt. Wenn sich das ganze Team Zeit nimmt für das gemeinsame Mittagessen, derweil zwei Hühner neben dem Tisch in der Erde picken.

Oder wenn sie abends am Feuer zusammen Der Mond ist aufgegangen singen und Friedger Freytag sagt, was ihm wirklich gefalle hier oben sei: «Etwas Sinnvolles zu tun.»

Und so findet am Ende auch das Älplerteam aus Deutschland auf Tschärmilonga genau das, was viele im Klischee suchen: eine Welt, in der Handlung und Handlungsfolgen überblickbar sind. Wo die Dinge ihre Ordnung haben.

Oder, wie Giorgio Hösli sagt: das gute Leben.