Pulverschnee auf Persisch

Die Alpen, Feb 2017

Das Tal von Taleghan ist umgeben von Gipfeln mit weiten Flanken und Schnee wie weissem Samt. Dennoch besuchen kaum je Touristen diese Gegend des Alborz-Gebirges. Und so führt eine Skitourenreise am vermeintlichen Ende der Welt auf einsamste Gipfel – und in warme Stuben.

Text & Fotos: Caroline Fink

Der alte Mann blickt unseren Bergführer Mohammad an und lächelt. «Das wirst du nicht schaffen», sagt er dann zu ihm. Er lebe seit seiner Geburt in diesem Dorf zuhinterst im Tal von Taleghan, und im Winter sei noch nie jemand auf diese Berge gestiegen. Mohammad lächelt ebenfalls und zeigt ihm unsere Tourenski, die Schuhe, die Steigfelle. Als wir losziehen, schüttelt der alte Herr den Kopf. «Wenn ihr es schaffen werdet, desillusioniert ihr mich», sagt er zum Abschied und schmunzelt, «weil ich dann mein ganzes Leben lang etwas Falsches geglaubt habe!»

Wir vier Schweizer und Mohammad wirken mit unseren Tourenski in Taleghan, als wären wir aus einer Raumkapsel gestiegen. Denn hier, tief in den Bergen, zieht im Winter sonst nur die Stille durch die Dörfer, während in Ställen Schafe blöken, ein paar gelangweilte Herdenhunde durch die verschneiten Strassen trotten und die Pappeln ihre kahlen Zweige zwischen den bunten Häusern in die kalte Luft recken. Bisher besuchen kaum ausländische Skitourenfahrer dieses Tal. Dies, obwohl es ein Garten Eden voller Skitourenberge ist. Nicht weit von Teheran gelegen, in der Gipfelwelt des Alborz. Jenes Gebirgszuges also, der sich zwischen der Hauptstadt und dem Kaspischen Meer erhebt.

Am Anfang unserer Reise stand denn auch ein besonderer Anlass, quasi ein freundschaftlicher Deal: Eine Handvoll iranischer Bergführer hatten ihren Schweizer Kollegen Jürg Anderegg gebeten, sie in aktueller Schweizer Lawinenkunde zu unterrichten. Im Gegenzug würden sie ihm und seinen Kollegen die Gipfel von Taleghan zeigen. Und so kam es, dass wir an manchen Tagen im Alborz Hangneigungen messen und Profile schaufeln, mit vereinten Kräften nach einem Wort in Farsi für Böschungstest suchen oder mit Mohammad, einem doktorierten Mathematiker, über Reduktionsfaktoren diskutieren.

 

Jede Tour wie eine Erstbesteigung

Doch an jenem Tag, als wir den alten Mann treffen, steht nur eines auf dem Programm: die erste Skibegehung eines Dreitausenders. So ziehen wir los, gleiten auf den Ski an verschneiten Pappelhainen vorbei, folgen einem Flusslauf und steigen allmählich durch Mulden und Buckel höher hinauf. Bis wir offene Flanken erreichen, in denen einem ein so eisiger Wind entgegenbläst, dass Wangen und Hände bald taub sind.

Hier im Alborz fühlt sich jede Tour wie ein Abenteuer an. Nicht bloss, weil der Wind kälter ist und die Flanken weiter sind, sondern auch weil es gilt, die Routen selber zu suchen. Geht es links rum? Oder doch besser rechts durch die Rinne? Wer Schweizer Skitourenkarten mitsamt ihren roten Strichen und rosa getönten Hangneigungen hinter sich lässt, entdeckt das Bergsteigen der Pioniere: Auf einmal gibt es keine «Routen» mehr, sondern nur noch Berge.

Nach drei Stunden stehen wir auf einem Gipfel, und ich frage Mohammad nach dessen Namen. Er runzelt die Stirn und überlegt eine Weile. Dann sagt er strahlend: «Nennen wir ihn Mishchal.» So gratulieren wir einander zur ersten Skibesteigung des Mishchal – auf Deutsch in etwa: Gems-Chnubel – und blicken dann auf die weiteren Hunderten von Gipfeln rund um uns. Einige von ihnen sind unbekannt, andere persische Grössen wie etwa der 4200 Meter hohe Shah Alborz, der «König des Alborz», oder der 4848 Meter hohe Alam Kuh, der als zweithöchster Gipfel des Iran an einen übergrossen Basodino erinnert.

 

Reise zur Seele des Iran

Ein wenig wie zu Hause fühle ich mich in diesem Moment. Nur die Täler erinnern daran, dass man in einer anderen Weltregion unterwegs ist. Denn unter ihren weissen Häuptern strecken die Berge ihre ockerfarbenen Füsse wie Wurzeln in den Talboden, in dessen Schoss hie und da Dörfer mit roten, gelben und blauen Hausdächern als kleine Farbtupfer leuchten. Es sind diese Dörfer, in denen die Skitouren beginnen und enden. Und in denen wir eine zweite Entdeckungsreise unternehmen: eine Reise zur Seele des Iran. Etwa dann, wenn in einem Haus neben der kleinen Moschee eine Tür aufgeht und uns eine Familie in ihre Stube bittet. Wo wir bald auf Kissen sitzen, die Beine unter einen Korsí strecken – einen niedrigen Tisch, der mit Decken bis zum Boden bedeckt ist und unter dem ein Ofen glüht – und heis­sen Tee trinken während ein Baby unter dem Tisch schläft und die Grossmutter uns Käse und Brot auftischt.

Oder wenn wir im Hauptort Shahrak im Schlepptau von Mohammad so manchen kleinen Laden besuchen, bis wir die Orientierung verlieren: Beim Bäcker glüht ein Steinofen, aus dem er schirmgrosse Fladenbrote holt, auf der anderen Strassenseite gibt es Milch, Joghurt und Feta , drei Häuser weiter steht ein freundlicher Herr hinter einem Regal voller Mandeln, Walnüsse und Konfekt, während gegenüber zwei junge Frauen in schicken Wintermänteln und hübsch drapierten Kopftüchern Honig und Trockenfrüchte verkaufen.

 

Skitourenfahrer ticken auf der ganzen Welt gleich

Als der letzte Tag unserer Reise naht, steigen wir nochmals alle gemeinsam auf einen Berg: vier Iraner und vier Schweizer, die zusammen unterwegs sind, als wären sie seit Jahren Bergkameraden. Und diesmal hat auch der Berg einen Namen: So gratulieren wir einander auf dem Gipfel des Chorasan Kuh, lachen und scherzen und geniessen den Blick in die Ferne. Auf die Pyramide des 5610 Meter hohen Damavand, der sich als höchster Gipfel des Iran am Horizont erhebt, und auf das Wolkenmeer im Süden, unter dem sich Teheran und der Alltag verbergen. «Jetzt sitzen sie unter dem Nebel und ärgern sich über das Wetter», sagt einer und grinst wie ein Schelm. «Und wir? Wir sind hier oben glücklich!» Skitourenfahrer ticken auf der ganzen Welt gleich. Und so jauchzen wir auch, einer wie der andere, als der Pulverschnee in der Abfahrt bis zu den Schultern stiebt und wir in weiten Schwüngen über die Hänge fliegen, bis wir ausser Atem sind.

Als wir gegen Abend in Mohammads gelbem Jeep zurück Richtung Shahrak fahren, sind wir vor Kälte, Wind, Schnee und Gipfelglück so müde, dass wir uns nur noch auf eines freuen: frisch gebackenes, warmes Fladenbrot, Kebab­spiesse, gegrillte Tomaten und heissen Tee. Vorerst rumpeln wir aber noch eine Stunde lang eine verschneite Piste entlang. Einem leuchtenden Horizont entgegen, über dem der Mond schon als feine Sichel im Himmel hängt, derweil die Gipfel beidseits des Tals wie schwarze Scherenschnitte aufragen. Wir schweigen und lauschen einem persischen Chanson, das im Radio läuft. Und während ich so aus dem Fenster blicke, denke ich mir: «Bergsteigen ist auf der ganzen Welt gleich: Es macht Menschen glücklich.»