Made in the Alps
geo, «schauplatz schweiz», Aug 2020
Produkte aus den Schweizer Alpen sind beliebt, weil sie ein Lebensgefühl transportieren. Zudem sind sie wichtig, um die Orte in den Bergen am Leben zu erhalten. GEO-Reporterin Caroline Fink hat Betriebe im Haslital und im Bergell besucht und erfahren: Ohne Innovationsgeist läuft trotz schöner Kulisse nichts.
Text & Fotos: Caroline Fink
Vor langer Zeit, so geht die Sage hier im Ort, da kamen Menschen aus dem hohen, fernen Norden. Sie liessen sich im Berner Oberländischen Haslital nieder und brachten ihr kulturelles Erbe mit; allem voran den «Haslistern»: ein sternförmiges Webmuster in rot, blau und weiss, das bis heute in der Handweberei Haslital in Meiringen gewoben wird. So erzählt es die Geschäftsführerin Sabine Bütikofer, während sie mir gewobene Bordüren, Stirnbänder und Schlüsselanhänger zeigt. Die Muster darauf – man muss es zugeben – erinnern tatsächlich an Handschuhe aus Norwegen oder Mützen aus Lappland.
Ob der Kern der Sage wahr ist, weiss niemand, doch der Haslistern ist bis heute ein Erfolg. Stolz präsentiert die Geschäftsführerin – blaue Augen, wacher Blick und schwarze Haare – die Handweberei Haslital. Diese ist bereit für die Zukunft: Zehn Webstühle stehen in einem Raum mit Fensterfront, makellosem Spannteppich und Küchenecke mit Kaffeemaschine. Acht einheimische Frauen weben regelmässig hier. So auch Margret Lucek-Anderegg, eine elegante Frau mit ausgesuchten Ohrringen. Vor zwei Jahren hat sie in einem Schnupperkurs der Weberei das alte Handwerk entdeckt und sich anschliessend von anderen Weberinnen aus dem Tal ausbilden lassen. Jetzt sitzt sie selbst am Webstuhl, der rattert und knallt, während sie das «Schiffchen» durch die Fäden schickt, überkopf an einem Griff zieht, mit den Füssen auf Pedale tritt. Fast wie an einer Orgel.
Eine Woche später im Bergeller Dorf Castasegna: Ich gehe mit Geschäftsführer Philippe Auderset durch das einstige Hotel «Croce Bianca». Wo früher Gäste ein und aus gingen, arbeiten nun Angestellte, die der Geschäftsführer alle mit Vornamen grüsst. Alice und Peter etwa, beide in weissen Schutzhauben und Laborschürzen, die in einem Raum Edelweissextrakt in eine Art Teigmaschine mischen. Elda, die ein Stockwerk tiefer am Tisch sitzt und per Fusspedal und Spritzdüse ein Wässerchen in Flacons füllt. Oder Luisa, die nebenan bernsteinfarbene Flüssigkeit in Reagenzgläser giesst. Eine Hexenküche könnte dies sein. Doch was hier entsteht, ist Naturkosmetik, bekannt unter dem Namen «Soglio-Produkte».
Was Handweberei und Kosmetikbetrieb verbindet: Beide gehören zu den zahllosen Manufakturen und Kleinstbetrieben im hiesigen Alpenraum. Wie viele genau es gebe, sei schwer zu sagen, meint Barbara Keller. Als Kuratorin des Alpinen Museums in Bern hat sie die Ausstellung «Werkstatt Alpen» gestaltet, die sich aktuell dem Thema der kleinen und kleinsten Produzenten im Alpenraum annimmt. «Fünfzig alpine Kleinstbetriebe sind an der Ausstellung beteiligt», sagt sie. Doch insgesamt gebe es sehr viele mehr. Besonders, wenn man Handwerksbetriebe wie Schreinereien oder Käsereien mitzähle.
«Handwerksbetriebe sind zentral für den Alpenraum», sagt Barbara Keller. Wichtiger als andernorts? «Ja. Im Flachland arbeitet rund ein Fünftel der Bevölkerung in Handwerksbetrieben. Im Berggebiet ist es über ein Viertel.»
Es geht also nicht nur um Kulturgut, sondern auch um Arbeitsplätze?
«Auf jeden Fall. Und um Perspektiven – gerade für Junge. Viele der Betriebe bieten Lehrstellen an. Bleiben Junge im Dorf, bleibt auch die Infrastruktur und damit das Leben im Dorf erhalten.»
Die «Soglio-Produkte AG» ist ein gutes Beispiel dafür: Vor mehr als 40 Jahren zogen Walter und Sonja Hunkeler aus dem Flachland ins Bergeller Dorf Soglio, wo sie in ihrem Haus ein erstes Labor einrichteten. Ihr Traum: die Wertschöpfung der vielen, im Bergell gedeihenden Heilpflanzen im Tal zu halten. Heute arbeiten 18 Angestellte für die Manufaktur, 16 von ihnen leben im Bergell. Eine stattliche Zahl für ein Tal, das sonst mit Abwanderung kämpft.
Es ist kurz nach Mittag, als ich mit Philippe Auderset durch die verwinkelten Gassen von Soglio gehe. Ein Dorf inmitten steiler Waldflanken, dessen Campanile über eine Handvoll Steindächer ragt, während auf der anderen Talseite die Zacken von Sciora und Badile wie Titanen aus Granit himmelwärts streben.
Nachdem wir die Häuser hinter uns gelassen haben, spazieren wir vorbei an Wiesen voller Orchideen und Wiesensalbei und Gartenbeeten, so gross wie eine Kuhweide. Manche Pflanzen, die als Essenzen und Extrakte in die Cremes, Gels und Balsame gelangten, gediehen in diesen Gärten, sagt Philippe Auderset. «Andere wachsen wild in der Natur.» Er zeigt mir Schachtelhalm, der wie hellgrüne Wolken am Wegrand steht. Oder Spirstauden, deren Blätter – zerrieben zwischen den Händen – nach Rheumasalbe riechen. «Salicylsäure», sagt der promovierte Chemiker und lächelt.
Wären Soglio-Produkte auch erfolgreich, würden sie in Aarau hergestellt? Der ruhige Mann, der lange für die Kosmetiklinie von Migros arbeitete, überlegt.
«Die Herstellung im Bergell ist Teil des Erfolgs», sagt er dann.
Weshalb?
«Weil jene, die das Bergell kennen, wissen: In diesem Tal lässt sich Schönes erleben. Und unsere Manufaktur tut umgekehrt dem Bergell gut.»
Die Kundschaft kauft also mehr als nur eine Creme oder ein Duschgel?
«Genau. Was sich in unserem Kundenmagazin spiegelt: Neben unseren Produkten zeigen wir auch immer dieses Tal. Portraitieren etwa einen lokalen Geigenbauer, stellen eine Wanderung vor oder den Brauch des Chalanda Marz.»
Intakte Bergwelten als Verkaufsargument, das kennt auch Paolo Degiorgi vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Konsumenten assoziierten Produkte aus dem Berggebiet auch mit Idylle und Erholung, sagt er. Sie kauften also nicht nur Alpkäse, sondern auch ein Lebensgefühl. Was auch grosse Player wie etwa Coop wissen: So verkauft Coop unter seinem Label «Pro Montagna» 350 Produkte aus alpinen Regionen, mit denen die Stiftung «Coop Patenschaft für Berggebiete» unterstützt wird.
Verkaufszahlen nennt der Grossverteiler keine. Doch die Nachfrage sei «sehr gross und erfreue sich wachsender Beliebtheit», heisst es auf Anfrage.
Nicht zuletzt diese Beliebtheit war der Grund, weshalb Paolo Degiorgi und seine Kollegen vor sechs Jahren ein Label für «Berg- und Alpprodukte» schufen und eine Verordnung ausarbeiteten, die regelt, welche landwirtschaftlichen Produkte die Wörter «Berg» oder «Alp» im Namen nutzen dürfen. Vorher sei es immer wieder zu «versuchter Täuschung der Konsumenten» gekommen, was heute verboten sei. Entdeckten Kantonschemiker «Bergwürste» aus Schaffhausen oder «Alpkäse», der im Februar im Tal entstand, würden diese Verstösse geahndet.
Doch allen Sympathien und Labels zum Trotz sind sich in einem Punkt alle einig: Am Ende entscheiden Qualität und Innovationsgeist über den Erfolg eines Bergprodukts. «Manufakturen, die ihr traditionelles Wissen nicht auf heutige Wünsche ausrichten, verschwinden», sagt Barbara Keller. Doch Erfolgsbeispiele gebe es viele: eine Küferei etwa, in deren Holzfässer nicht mehr nur Wein reift, sondern auch Wellness-Gäste baden; eine Schuhmanufaktur, die nebst Winterstiefeln nun auch trendige Sneaker fabriziert; eine junge Emmentaler Goldschmiedin, die Trachtenschmuck genauso wie auch modische Fingerringe fertigt.
Auch Soglio-Produkte erfinden sich immer wieder neu: Jährlich lanciert das Team um Philippe Auderset zwei neue Artikel. Als der Geschäftsführer von der jüngsten Markteinführung erzählt, schüttelt er den Kopf. Fast so, als würde er sich genieren für diesen Erfolg: «ein Spray zur Handdesinfektion!» Drogerien, Apotheken, Private – alle wollten während der Pandemie diesen Spray. Es war ein Zufallstreffer, ganz im Gegensatz zum Erfolg des Bergeller Betriebs insgesamt: Philippe Auderset lässt Grossanlässe mit Mustern sponsern, unterhält einen Instagram-Kanal, unterstützt zwei junge Sportlerinnen als Markenbotschafterinnen.
Und auch die Handweberei Haslital lebt längst nicht nur vom «Haslistern». Geschäftsführerin Sabine Bütikofer selbst gab einst weder auf Bräuche noch Tradition viel. «Eine Tracht mit gewobenem Tuch anziehen?» Sie lacht. Das sei nie ihr Ding gewesen. Sie trägt lieber rote Converse-Turnschuhe und Jeans.
Als Jugendliche wollte sie Coiffeuse werden, dann machte sie eine Detailhandelslehre. Später plante sie eine Weiterbildung im Gesundheitswesen, als es anders kam: An einem Weihnachtsessen vor zehn Jahren erfuhr sie von einer Kollegin, die Handweberei suche eine neue Geschäftsführerin. «Das wär doch was für dich!» Sabine Bütikofer zögerte, doch nach dem Vorstellungsgespräch sei ihr klar gewesen: «Das war es!»
Dank der Weberei tauchte sie ein in die Geschichte ihres Tals, ohne ihr Faible für Zeitgemässes zu verlieren. Im Betrieb gibt es heute eine Innovationsgruppe, Markenbotschafter ist ein junger Spitzenkletterer. Wobei dieser Weg in die Zukunft längst nicht immer alle freute. Als die Weberei vom «Wäbihüüs» – einem Holzhaus mit knarzenden Dielen und Täferzimmern – wegen Platzmangel ins einstige Zeughaus der Armee umzog, habe sie die Wehmut in den Augen der alten Weberinnen gesehen, sagt Sabine Bütikofer. Und ein «Erdbeben» sei durch das Team gegangen, als die erweiterte Geschäftsleitung entschied, neue Farben ins Sortiment aufzunehmen. Sabine Bütikofer öffnet einen weissen Wandschrank, in dem lila, grüne und gelbe Garnrollen liegen. «Da sind sie.»
Sie zieht eine Kartonschachtel vom oberen Tablar. «Und hier sind die neuen Effektgarne.»
Effektgarne?
«Garne, die glitzern. Gold und Silber etwa.» Ob diese beliebt seien, frage ich nach.
«Sehr! Sie brachten neue Kundschaft.» Und was als nächstes komme?
Die Geschäftsführerin legt traditionelle Webmuster auf den Tisch, jedes so gross wie ein Topflappen.
«Als nächstes? Digitalisieren wir unsere Muster.»
Sabine Bütikofer ist eine Macherin mit Blick für die Zukunft, die behutsam, aber stetig voranschreitet. «Slow Innovation» heisst dieser Prozess im Fachjargon. Eine Form von Innovation, die nicht aus intensiver Interaktion und Diversität entsteht, sondern sich aus einem einzelnen Betrieb heraus entwickelt. Prägend und wichtig sei diese für Bergregionen, hielt eine Studie des Geographischen Instituts der Universität Bern jüngst fest.
Altes dank Neuem zu bewahren, so könnte die Zauberformel der kleinen und kleinsten Manufakturen im Alpenraum also lauten. Was auch auch die älteren Weberinnen im Haslital verstanden hätten, sagt Sabine Bütikofer. Das ist nicht zu übersehen: Als ich wenig später im Shop der Handweberei Haslital stehe, entdecke ich Magnesiumbeutel für Kletterer mit goldenem Haslistern und Filzschalen mit gewobenen Bordüren in lila und grün.
Doch auch die dunkelblau-rot-weissen Kissenbezüge und Stirnbänder sind noch da. Und mit ihnen lebt auch die Sage weiter, wonach vor langer Zeit Menschen aus dem hohen Norden ins Haslital kamen und einen gewobenen Stern mitbrachten.