Solitär im Süden

NZZ, Aug 2016

Die 4103 Meter hohe Barre des Ecrins erhebt sich in einem der wildesten Winkel Frankreichs. Sie ist der südlichste Viertausender der Alpen und besticht durch einen atemraubenden Ausblick vom Gipfel, der alle umliegenden Berge weit überragt.

Text & Fotos: Caroline Fink

Die Normalroute auf die Barre des Ecrins ist eine dieser unendlichen Geschichten. Fast drei Kilometer lang zieht sie sich über den Glacier Blanc zum Fuss des Berges, danach folgt eine Schneeflanke, die vor allem eines verspricht: 700 Höhenmeter Monotonie. Ein Versprechen, das sie an diesem frühen Morgen auch hält. Einen Schritt nach dem anderen steigen wir höher, die Steigeisen knirschen im Schnee, die Gedanken kreisen im Leerlauf. Derweil schleicht die Morgendämmerung um uns, erste Konturen tauchen auf – Eisabbrüche und Spalten in der Nähe, Gipfel in der Ferne. Irgendwann hebe ich den Arm, knipse die Stirnlampe aus und falle zurück in den Trott.

Doch für diesen Gipfel lohnt sich jeder Schritt. Denn die 4103 Meter hohe Barre des Ecrins ist ein Solitär unter den Viertausendern. Einst der höchste Berg Frankreichs – in der Zeit, als der Montblanc mitsamt Savoyen ganz zu Italien gehörte –, kommt ihr heute nach wie vor die Ehre des südlichsten Viertausenders der Alpen zu. Wichtiger indes: In ihrem Reich ist sie eine Herrscherin. Die Nachbargipfel überragt sie um mehrere hundert Meter, und der britische Alpinist Francis Fox Tuckett bezeichnete sie bereits 1863 als «real monarch of the entire group».

 

Wildes Alpenwunderland

Dennoch blieb diese Ecke der Dauphiné lange Zeit unbekannt. Erst im 19. Jahrhundert entdeckten Geografen das Pelvoux-Massiv – und bis heute ist es eines der wildesten Gebiete der Alpen. Was uns bei Sonnenaufgang auf eindrückliche Weise vorgeführt wird. Als wären wir über Nacht in ein wildes Wunderland gestiegen, sehen wir nur eines: Berge und noch mehr Berge. Wir bleiben stehen und blicken um uns. Auf die Meije, deren Felszacken im ersten Sonnenlicht wie eine honigfarbene Kathedrale himmelwärts streben, auf die Felsfluchten der Grande Ruine, auf Hunderte von Gipfeln, deren Namen wir nicht kennen. Es ist, als blickten wir durch Raum und Zeit in die Ewigkeit des Alpenbogens. In diesem Moment geht mir ein Satz durch den Kopf, den der britische Alpinist Francis Fox Tuckett (1834–1913) vor über 150 Jahren formulierte: «Die Gipfel des Pelvoux sind eine der schönsten und eindrucksvollsten Kombinationen von Wildheit und Erhabenheit, die ich jemals gesehen habe.»

Francis Fox Tuckett ist einer der Ersten, die sich in alpinistischem Sinn für die Ecrins interessieren. Was ihn den Plan schmieden lässt, das Gebiet während zweier Wochen zu erkunden. Denn obwohl die Barre des Ecrins bereits in «McCulloch's Geographical Dictionary» von 1841 mit korrekter Höhenangabe vermerkt ist, bleibt die Gliederung des Massivs unbekannt – dies in einer Zeit, als in der Schweiz bereits 28 Viertausender bestiegen sind.

So zieht Tuckett im Juli 1862 mit den Führern Peter Perren und Michel Croz los, angetrieben von alpiner Erkundungslust und wissenschaftlicher Neugier: Mit im Gepäck haben sie gemäss Tucketts Notizen nicht nur Schlafsäcke, einen «tragbaren Kochapparat» sowie «portable Suppe», einen zähflüssigen Fleischextrakt, sondern auch je zwei Thermometer und Barometer sowie einen Theodoliten für topografische Vermessungen.

Und ihre Mission gelingt. Sie durchkreuzen das Gebiet und überqueren als Erste mehrere hochalpine Pässe. Nur ein Wunsch bleibt unerfüllt: die Erstbesteigung der Barre des Ecrins. Als Tuckett und seine Führer den Gipfel vom Glacier Blanc aus erstmals erblicken, glauben sie noch an das Unterfangen: «Eine flüchtige Überprüfung bestärkte uns in der Hoffnung, dass eine Besteigung möglich sein würde», so Tuckett. Doch auf dem Glacier Blanc sinken sie im weichen Schnee knietief ein, und frische Lawinenkegel in der Nordflanke des Berges lassen sie zurückschrecken. Sie geben ihr Ziel auf und gehen stattdessen als Erkunder des Pelvoux in die Geschichte des Alpinismus ein. Nicht viel anders geht es ein paar Wochen später dem Botaniker William Mathews (1828–1901) und dem Geologen Thomas George Bonney (1833–1923). Mit dem Ziel, die Barre des Ecrins erstmals zu besteigen, heuern auch sie Michel Croz und seinen Bruder Jean-Baptiste Croz an. Sie schaffen es, den Bergschrund zu überwinden, und gelangen bis zum Fuss des felsigen Gipfelaufbaus, doch am vereisten Gipfelgrat scheitern auch sie.

 

Kein Meter geschenkt

Nun aber scheint die Barre des Ecrins die Alpinisten erst recht nicht mehr loszulassen, und so steht zwei Jahre später die Crème de la Crème des britischen Alpinismus am Start: der junge und ambitionierte Edward Whymper, der ein Jahr später das Matterhorn erstbesteigen wird, Horace Walker, dessen Schwester Lucy Walker dereinst als erste Frau auf dem Matterhorn steht, Adolphus Warburton Moore sowie der Grindelwalder Bergführer Christian Almer und – einmal mehr – Michel Croz, der im Jahr darauf bei der Erstbesteigung des Matterhorns ums Leben kommen wird.

Diesmal sollte es gelingen, doch auch die zu ihrer Zeit stärksten Führer und Alpinisten beissen sich die Zähne am höchsten Berg der Dauphiné aus. Den Bergschrund überwinden sie schnell, doch am Ostgrat des Gipfelaufbaus scheitern auch sie. Zurück beim Bergschrund, entscheiden sie sich für ein Couloir, welches direkt durch die Nordseite des Gipfelaufbaus führt – das heutige Whymper-Couloir. Almer und Croz schlagen dazu über eine Stunde lang Stufen in Schnee und Eis, bis der Trupp erschöpft den obersten Teil des Ostgrats erreicht. Und wenngleich die Entfernung von dort zum Gipfel laut Whymper «lächerlich klein, so lächerlich klein» ist, wird ihnen kein Meter geschenkt. Zudem fährt allen der Schreck in die Glieder, als Almer bei einem Schritt der Schnee unter den Füssen wegbricht und er stürzt. Whymper befürchtet das Schlimmste. «Aber er fiel zum Glück auf die richtige Seite und konnte sich halten.» So erreichen sie endlich den luftigen Gipfel der Barre des Ecrins und finden trotz Eile und strapaziertem Nervenkostüm etwas Zeit, um die Aussicht zu geniessen. «Ein Panorama, welches sich über ein Gebiet wie ganz England erstreckt (. . .) und selbst in den Alpen nicht oft anzutreffen ist», so Whymper.

 

Winzige Zäcklein am Horizont

Anders als die Erstbegeher traversieren heute die meisten Alpinisten die gesamte Nordflanke am Fuss des Gipfelaufbaus, steigen danach in den Sattel der Brèche Lory und klettern über den Westgrat auf den Gipfel. So auch wir. Wobei die Probleme wie bei Whymper und Co. auch heute noch am Grat anfangen: Da der Firn in der Brèche Lory absinkt, stehen wir nun vor einer fast senkrechten Felspassage, die zum eigentlichen Grat führt. Eine Pièce de Résistance auf 4000 Metern Höhe, welche den Puls hochschnellen lässt, während man sich an improvisierten Fixseilen hochwuchtet, derweil die Steigeisen über Felsleisten kratzen. «‹By fair means› geht anders», denke ich. Doch der anschliessende Felsgrat, frisch verschneit und eisig, lässt jeden Gedanken rasch verfliegen. Für gut eine Stunde beschränkt sich die Welt auf Tritte und Griffe, Pickel und Zackenschlingen, auf das Klimpern von Karabinern und immer wieder: Tiefblicke in die Südwand der Barre. Bis auf einmal das Gipfelkreuz vor einem auftaucht. Ein Gipfelkreuz, neben dem wir genau das tun werden, was alle auf der Barre des Ecrins tun: über die Aussicht staunen. Über Labyrinthe von Tälern und Gipfeln unter uns und den Weitblick von den südlichen Seealpen über das Montblanc-Gebiet bis zu Matterhorn, Täschhorn und Dom, die sich als winzige Zäcklein am Horizont erheben.

Einziger Wermutstropfen in diesem Moment ist der bevorstehende Abstieg. Dieser führt über dieselbe Route und damit über den verschneiten Westgrat zurück, womit sich der Kreis zu den Erstbesteigern schliesst. Auch sie stiegen über diesen Grat hinab in die Firnflanke des Berges. Anders als wir heute blickten Whymper und seine Gefährten dieser Passage jedoch furchterfüllt entgegen, wussten sie doch nicht, was sie erwarten würde. «Der liebe Gott hat uns heraufgeführt und wird uns auch sicher hinuntergelangen lassen», so versuchte Almer die Gefährten und wohl sich selbst zu beruhigen. Was Whymper erst recht Sorgen bereitete: «Er bewies damit, was er dachte.»

Doch einige Stunden später stehen sie heil auf dem Glacier Blanc, erleichtert und übermütig vor Glück über den gelungenen Abstieg vom Grat. Und wie die meisten Alpinisten heute entscheiden auch sie sich dafür, noch gleichentags bis nach «Pré de Madame Carle» – auf Deutsch: Wiese von Frau Carle – abzusteigen. Einer Hochebene unterhalb des Gletschers, zwischen deren Lärchen heutzutage ein Gasthaus mit Sonnenterrasse liegt. Damals aber muss die Wiese der Frau Carle nichts als ein trostloser Ort aus Geröll und Gestrüpp gewesen sein. Bereits Francis Fox Tuckett fragte sich, welch unheilvolle Tat die «unbekannte Dame wohl begangen habe, um solch blanke Verwüstung über ihr Land gebracht zu haben».

Auch Whymper und seine Gefährten finden die Wiese von Frau Carle wenig einladend. Da es bereits dunkel ist, schlagen Walker, Moore und Almer dennoch neben einem Felsblock ein Nachtlager auf. Croz und Whymper indes wollen einen besseren Unterstand suchen, da Gewitter drohen. So stolpern sie weiter durch Geröll und verlieren einander in der Dunkelheit; Whymper fällt kopfüber in einen Alpenrosenstrauch, und wenig später finden sie einander wieder im Bach liegend. So werden auch sie «dieser Art des Wanderns so überdrüssig», dass sie bald neben einem Felsen ein Lager einrichten – hungrig, nass und müde. Wobei sie laut Whympers Erinnerungen bald alle Mühsal vergessen: An einem knisternden Wacholderfeuer sitzend, stopfen sie ihre Pfeifen und erzählen einander Räubergeschichten. «Bis weit nach Mitternacht.» Doch als wir gegen Abend die Hochebene beziehungsweise den Parkplatz von Madame Carle erreichen, steigen wir in unseren Mietwagen, kurven über die Bergstrasse im letzten Licht des Tages hinab ins nahe Dörfchen Ailefroide und sitzen wenig später vor einem Fondue.